Mal wieder § 55 StPO und die Mosaiktheorie

Ich fand schon vor mehr als dreißig Jahren die „Mosaiktheorie“ des Bundesgerichtshofes zu § 55 StPO nachvollziehbar und leicht verständlich, das hat sich im Laufe der Jahre nicht geändert.

Ich kann deshalb nicht so recht nachvollziehen, warum viele Richter/Gerichte beharrlich versuchen, diese Rechtsgedanken zu ignorieren oder zu umgehen. Aber sei es wie es sei, jedenfalls werden dann Obergerichte veranlasst, sich mal wieder zu dem Thema zu äußern, so jetzt aktuell das Oberlandesgericht Celle am 10.01.2024, Geschäftszeichen 2 Ws 4/24, durch einen Beschluss zu § 55 StPO erwirkt von dem Kollegen Clemens Anger aus Hannover.

Für die Abgrenzung, unter welchen Voraussetzungen die Gefahr einer relevanten Selbstbelastung im Sinne von § 55 StPO besteht, ist anerkannt, dass bereits mögliche Erkenntnisse aus der Zeugenaussage ausreichen, die als „Teilstücke in einem mosaikartig zusammengesetzten Beweisgebäude“ (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 13.11.1998, Az. StB 12/98) belastender Natur sind. In eine solche Gefahr geriete der Zeuge dann, wenn eine Ermittlungsbehörde aus seiner wahrheitsgemäßen Aussage Tatsachen entnehmen könnte – nicht müsste -, die sie gemäß § 152 Abs. 2 StPO zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens veranlassen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.02.2002, Az. 2 BvR 1249/01, StV 2002, 177). Da die Schwelle eines Anfangsverdachts im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO niedrig liegt, ist auch das Bestehen einer entsprechenden Gefahr bereits weit im Vorfeld einer direkten Belastung zu bejahen (BVerfG, a.a.O.). Ein Auskunftsverweigerungsrecht im Sinne des § 55 Abs. 1 StPO besteht danach selbst für solche Tatsachen, die nur mittelbar einen Anfangsverdacht begründen können …“

Zu beachten dabei ist auch das Zusammenspiel des umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts mit der Tatsache, dass es auf den Zweck der jeweiligen Frage nicht ankommt. Denn bei der Prüfung, ob das Auskunftsverweigerungsrecht besteht, müssen sowohl die Verneinung als auch die Bejahung der Frage einkalkuliert werden, wobei es genügt, wenn nur eine der beiden Möglichkeiten zur Verfolgungsgefahr führt, andernfalls würde der Gebrauch des Auskunftsverweigerungsrechts ein Verdachtsmoment gegen den Zeugen schaffen. (Meyer-Goßner/Schmitt StPO 66. Auflage 2023, § 55 Rdn. 2; BVerfG NJW 1999, 779).

In der letztgenannten Entscheidung führt das Bundesverfassungsgericht treffend und unmissverständlich aus:

Ist über die Berechtigung einer auf § 55 StPO gestützten Auskunftsverweigerung zu entscheiden, muss nach der strafgerichtlichen Rechtsprechung die Möglichkeit einer Bejahung und einer Verneinung der an den Zeugen gerichteten Frage in gleicher Weise in Betracht gezogen werden. Bringt auch nur eine dieser Möglichkeiten den Zeugen in die Gefahr einer Strafverfolgung, ist die Auskunftsverweigerung in der Regel berechtigt. Andernfalls würde der (schuldige) Zeuge durch den Gebrauch des Auskunftsverweigerungsrechts einen Verdachtsgrund gegen sich schaffen, was dem Schutzzweck von § 55 StPO zuwiderliefe (vgl. BGHR StPO § 55 I Auskunftsverweigerung 3).

Nimmt man nun diese unumstößlichen Grundsätze zusammen mit der ebenfalls unumstößlichen und unbestrittenen Mosaiktheorie und wendet diese Kombination auf an, gibt es einen bunten Strauß an Konstellationen, die alle die Anwendung von § 55 StPO zwingend machen.

Das Oberlandesgericht Celle hatte sich dabei mit der in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchen Frage zu befassen, ob ein rechtskräftig verurteilter Zeuge auf § 55 zurückgreifen kann; in der Entscheidung heißt es dann:

Liegen aber bereits Anhaltspunkte für weitere, noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Betäubungsmittelstraftaten … vor, so kann gerade nicht ausgeschlossen werden, dass … durch die … verlangten Auskünfte … bereits rechtskräftig abgeurteilter Betäubungsmittelgeschäfte – wenn auch nur mittelbar – neue Ermittlungsansätze und dadurch zugleich potentielle Beweismittel gegen sich selbst wegen noch verfolgbarer Delikte liefen würde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.02.2002, Az. 2 BvR 1249/01, StV 2002, 177).

Als Verteidiger wird man dann, wenn man den § 55 StPO bei solchen Zeugen anspricht, zwar oft hören, dass § 55 StPO nur dem Schutz des Zeugen dient, man kann aber als unabhängiges Organ der Rechtspflege dann dafür sorgen, dass dem betreffenden Zeugen wenigstens ein Beistand bestellt wird (§ 68 b StPO).

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Über rawsiebers

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht, bundesweit tätig, TOP-RECHTSANWALT Deutschland 2014, 2015, 2016, 2017, 2018, 2019, 2020: STRAFRECHT (Focus-Spezial von 2014, 2015, 2016, 2017, 2018, 2019, 2020)
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